Lärmsorgen

Kirchenglocken

Ungefragter traditioneller Weckdienst

Heute geht es nicht mehr um die Frage, ob man eine Uhr oder einen Wecker oder gar schon die hippe Version Mobilfon hat, sondern allenfalls darum, wie schick oder funktional das persönliche Utensil ist. Schichtarbeiter und Nachteulen möchten so oder so ihren persönlichen Wecker gerne selber programmieren.
 

Kirchenglocken werden einerseits zu kultischen Zwecken und anderseits zur Zeitangabe geläutet. Dazu meint die Evangelisch-reformierte Landeskirche: "Glocken als Zeitangabe sind ein Dienst an der Öffentlichkeit und keine kirchliche Notwendigkeit."

Streitigkeiten um Kirchenglocken werden meist im Zusammenhang mit nächtlichen Zeitschlägen und dem Morgengeläut geführt.
Läuten oder Lärmen?
An einem 200 Meter von der Kirche entfernten Wohnhaus wurde der 'Lärm des Läutens' gemessen. Die Pegel von kultischem Geläut betrugen je nach Anlass 70 bis 78 dB, jene der Zeitschläge zwischen 54 und 61 dB. Die Grenzwerte für Verkehrslärm liegen bei 60 bis 65 db am Tag und 50 bis 55 dB in der Nacht, können für Kirchengeläut allerdings nicht vorbehaltslos angewandt werden.

Situation

Einleitung

Die Lärmemissionen von Kirchenglocken werden vom Umweltschutzgesetz USG erfasst, da eine Kirche als Anlage gilt. Lärmgrenzwerte wurden für Kirchen keine festgelegt, aber: die Bevölkerung darf ganz allgemein durch den Lärm von Anlagen in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich gestört werden.

Recht und Spielraum

Die auf dem USG basierende Lärmschutzverordnung LSV sieht keine Grenzwerte vor. Rechtlich ist die Situation nicht eindeutig.
Einerseits werden in den kommunalen Reglementen und Verordnungen allgemein gültige Ruhezeiten mit Verschärfungen während der Nachtperiode und an Sonn- und Feiertagen festgelegt. Während der Nacht wäre demnach das Geläut nicht erlaubt, wenn dadurch die Ruhe gestört wird. Ausserhalb der Nachtruhezeiten haben die Gemeinden einen grösseren Ermessensspielraum.
Anderseits räumt das Bundesgericht bei seinen Abwägungen der Tradition ein hohes Gewicht ein und lässt die geänderten Ruhebedürfnisse der 24-Stunden-Gesellschaft in die zweite Reihe zurücktreten.
Recht und vor allem Rechtsprechung räumen den Gemeinden also grossen Handlungsspielraum ein. Dieser Spielraum ist einer einfachen und schnellen Lösungsfindung nicht unbedingt zuträglich. Anderseits lässt er massgeschneiderte Lösungen pro Fall zu.

Messungen und Folgerungen

Erhebungen von Lärmbelastungen, denen keine Grenzwerte gegenübergestellt werden können, rechtfertigen ihren Aufwand selten. Sie verschieben das Diskussionsthema in den technisch-rechtlichen Bereich, zeigen aber noch keinerlei Anhaltspunkte für Lösungen. Mithilfe einer auf Messungen beruhenden Studie der ETH kann allenfalls abgeschätzt werden, wieviele Aufwachreaktionen pro Nacht und Schläfer in der Nachbarschaft zu erwarten sind. Die aus lärmschützerischer Sicht massgebende Störung sind diese Aufwachreaktionen, also die Störung des Schlafes in der Nacht und am frühen Morgen durch Zeitschläge und Morgengeläut. Schlaf ist unbestrittenermassen notwendig zur Regeneration, also zur Erhaltung der Gesundheit. Neben der Höhe des Schallpegels am Ohr ist der Studie zufolge die Häufigkeit des Glockenschlages während der Schlafperiode überproportional massgeblich für die Anzahl Aufwachreaktionen.
Das gibt klare Hinweise auf Wirkung und Sinn verschiedener Ansätze zur Problemlösung. Im Hinblick auf die erwähnten Störungen des Schlafes und auf die Zusammenhänge mit Pegel, Zeitpunkt und Häufigkeit ist unschwer zu erkennen, dass durch den Verzicht auf Zeitschläge und Geläut während der sensiblen ‚Tages'zeiten (also Nachtzeiten), die in der Regel etwa den normalen Werktags-Nachtruhezeiten entsprechen (z. B. 22 bis 7 Uhr), eine entscheidende Verbesserung und Entschärfung der Situation erreicht werden kann. Das dürfte auch dem Empfinden und den Wünschen einer Mehrheit der Betroffenen entsprechen.

ETH-ScienceDirect: An event-related analysis of awakening reactions due to nocturnal church bell noise

Stossrichtung und Massnahmen

Als Kompromisslösung und aus lärmschützerischer Sicht einen Schritt in die richtige Richtung bedeuten also Massnahmen im Bereich der Läuteordnung. Während das Läuten für kultische Zwecke tagsüber grösstenteils unangetastet bleiben dürfte, sollten Zeitschläge und ähnliches während der (Nacht-) Ruhezeiten hingegen teilweise oder vollständig vermieden werden können.
Mit einschränkenden Bestimmungen in der Läuteordnung sollten die Grundbedürfnisse einer Mehrheit von Befürwortern und Gegnern des Glockenschalls erfüllt werden können.

Beispiele:

  • Kein nächtlicher Zeitschlag zwischen 22 und 7 Uhr
  • Kein morgendliches Frühgeläut
  • Morgendliches Frühgeläut nur am Wochenende und an Feiertagen
  • Morgendliches Frühgeläut erst um 7 Uhr
  • Kein kultisches Läuten am Sonntagmorgen um 8.00

Eine Verkürzung des Ein- und Ausläutens des Sonntags am Samstag- und Sonntagabend um 19 Uhr geht in Richtung Kompromisslösung, hat aber im Hinblick auf die kritischen Aufwachreaktionen keine Priorität.
Einem kultischen Läuten vor dem Gottesdienst um 9.30 Uhr sollte nichts im Wege stehen und es müsste in den Genuss einer minimalen Toleranz seitens der Nachbarschaft kommen.

Tradition und Technik

Die Umsetzung solcher Massnahmen setzt das Entgegenkommen der Kirche oder der Stadtverwaltung voraus, denn das Bundesgericht hat in mehreren Urteilen bei der Interessenabwägung zwischen der Tradition des Glockenläutens und den Interessen des Lärmschutzes zu Gunsten der Kirche entschieden. Das Bundesgericht hält an dieser Praxis auch in Kenntnis der gesundheitsschädigenden Wirkung von nächtlichem Glockenläuten fest und stützt die traditionalistischen Urteile der Vorinstanzen.

Technische Lösungen, wie den Glockenturm zu isolieren, leisere Glocken oder Klöppel zu installieren, lohnen den erheblichen Aufwand nicht, zumindest nicht im Hinblick auf die Überlegungen zu gesundheitsschädlichen Aufwachreaktionen, da die Pegelhöhe nicht den entscheidenden Lärmfaktor darstellt und weil im ursprünglichen Sinn der Schall ja gehört werden soll. Allenfalls lässt sich mit Pegelreduktionen die Anzahl Betroffener einschränken - was aber den verbleibenden Betroffenen nicht viel nützt. Zur Wirkungsfrage gesellen sich ausserdem noch diverse problematische technische und ästhetische Aspekte.


Zuständigkeit

Für diese Kategorie von Alltagslärm ohne Grenzwerte ist die betreffende Gemeindeverwaltung zuständig, in grösseren Gemeinden und Städten in der Regel deren Baubehörde (Lärm von Bauten und Anlagen) oder Sicherheitsbehörde und Polizei (Lärm von menschlichen Tätigkeiten).

Liste Gemeinden Schweiz
(Wikipedia; Link zur Gemeindeverwaltung in Servicespalte [rechts] auf Detailseite Gemeinde)

Die meisten Gemeinden halten die Spielregeln zum Lärm im Rahmen einer Gemeinde- oder Polizeiverordnung fest.

Beispiel Polizeiverordnung (Auszug Lärmschutz)


Rechtsprechung

Bundes- und Verwaltungsgerichtsentscheide zu Kirchenglockenlärm

In der Rubrik «Recht & Gesetz» ist eine Sammlung mit Bundes- und Verwaltungsgerichtsentscheiden zu verschiedenen Lärmarten zu finden. Die Liste wird laufend aktualisiert.

Alltagslärm - Kirchenglocken


Vollzugshilfen

Die Vereinigung der kantonalen Lärmschutzfachleute (Cercle Bruit) stellt Vollzugshilfen und weitere Unterlagen zu lärmspezifischen Themen zur Verfügung. Die Dokumente stammen von Bund, Kantonen, Fachstellen und Verbänden.

Vollzugsordner: 8.40 Glocken

Vollzugshilfe «Ermittlung und Beurteilung von Alltagslärm»

Die Vollzugshilfe des Bundesamtes für Umwelt (BafU) unterstützt die kantonalen und kommunalen Behörden bei der Suche nach einer Lösung für Lärmkonflikte. In Form von Fallbeispielen wird auch diese Lärmquelle abgehandelt.

Betroffenen kann die Vollzugshilfe Anhaltspunkte geben, wie von Seiten der Behörden versucht wird, den oftmals verzwickten Situationen beizukommen.

BAFU: Ermittlung und Beurteilung von Alltagslärm


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